Wie gehen wir mit dem Angriff auf bestehende Geschäftsmodelle um?
In der aktuellen Diskussion über Temu und Shein sind Nachhaltigkeit, Produktsicherheit oder auch fehlerhafte Deklarationen die Aufreger der Nation. Wie so oft mündet dies in Aufforderungen an die Politik, endlich regulierend einzugreifen, um den heimischen Handel wie auch unsere Volkswirtschaft zu schützen.
Ein Déjà-vu, welches an die vergangene Dekade des Wachstums von Online-Kanälen erinnert und zum ‚Wohle unserer Innenstädte‘ die Regulatorik der Politik eingefordert wurde. Als unaufhaltsamer Hauptverursacher des Übels konnte damals der Online-Handel mit Amazon an vorderster Front ausgemacht werden; dagegen wurde oftmals eine selbstkritische Bewertung über die Tragfähigkeit des eigenen Geschäftsmodells gerne ausgeblendet.
Paradoxerweise hat die Branche etwas später Omni-Channel-Konzepte stationärer Anbieter, wie von Breuninger, in der Coronakrise entstandene ‚Partnermodelle‘ von Online-Anbietern wie Zalando oder den steinigen Weg der Otto-Group zur Plattform gefeiert. Damit ließ sich als (fast alleiniges) Feindbild auch wieder Amazon fokussieren. Seit Monaten verschiebt sich dieser Fokus jedoch grundlegend: angesichts des chinesischen Angriffs von Temu und Shein auf das Portemonnaie und Wohlbefinden ‚unserer‘ angestammten Kunden, rückt Amazon nun gefühlt in das Lager ‚der Guten‘ und in die Allianz ‚gegen den asiatischen Angriff‘.
Viel Zeit und Energie wird in die (durchaus notwendige) Beschreibung und Aufarbeitung problematischer Geschäftspraktiken von Temu und Shein gesteckt. Bedauerlich, wie so oft: nach geäußerter Empörung und an die Politik gerichteter Appelle unterbleibt ein tieferer Blick auf die Geschäftsmodelle beider Anbieter. Warum auch? Haben doch Temu und Shein ihre Wettbewerbspositionen vermeintlich ‚unrechtmäßig‘ und ‚nicht-compliant‘ erlangt; dies zudem durch staatliche Subventionen und Preis-Dumping. Was soll sich daraus schon ableiten lassen?
Klammert man die absolut berechtigten Kritikpunkte an beiden Anbietern aus, so lassen sich doch beachtenswerte Gestaltungen der Geschäftsmodelle ausmachen, die viele Wettbewerber zum Taumeln bringen können. Welche wesentlichen Punkte lassen sich also für die Diskussion mitnehmen?
Was haben die Geschäftsmodelle unter der Haube?
Trotz vieler Gemeinsamkeiten sind die Geschäftsmodelle von Temu und Shein nicht über einen Kamm zu scheren. So unterscheiden sie sich hinsichtlich der angebotenen Kategorien, der Art der Vermarktung und ihrer Einbindung der Produzenten.
So ist Temu stärker als Marktplatz ausgerichtet, über den Produzenten ihre Ware in unterschiedlichsten Nonfood-Kategorien vermarkten können. Endkunden werden über Social Commerce und Gamification angesprochen, nicht zuletzt zur Erlangung noch günstigerer Preise.
Dagegen fokussiert Shein den Fast-Fashion Bereich und setzt auf eine starke Anbindung sowie Steuerung der Fabriken. Damit wird eine eigene Markenstrategie umgesetzt, die zukünftig auch Drittmarken einbezieht. Shein zeichnet sich durch einen technologie-getriebenen Ansatz aus, der von Produktentwicklung bis zur Lieferketten-Steuerung reicht.
Wertschöpfungskette ohne Zwischenstufen
Eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten beider Geschäftsmodelle ist die radikale Verkürzung traditioneller Liefer- und Wertschöpfungsketten.
Auf beiden Plattformen erfolgt die direkte Vermittlung von Geschäften zwischen Produzenten und den weltweit verteilten Endverbrauchern: der Endkonsument kauft direkt in der Fabrik. Damit werden sämtliche Zwischenstufen (vom Trader über Ex-/Importeure und Großhandel bis hin zum Einzelhandel) und gleichzeitig deren Kosten wie auch Margen eliminiert.
Provisionen bzw. Gebühren der Produzenten für die Nutzung der Plattformen sind äußerst niedrig. Wertströme für Plattformen und Produzenten generieren sich über die Quantität der Aufträge und nicht die Einzelbestellung. Dies wiederum hat kalkulatorische Auswirkungen auf den Angebotspreis.
Entschlackte und direkte Lieferkette
Auch die Zustellung der Sendungen erfolgt auf direktem Weg von der Fabrik an den Endverbraucher. Ausgangspakete verlassen die Fabriken im zustellfertigen Zustand – in aller Regel bereits mit den Sendungsetiketten für den Endverbraucher.
Damit durchläuft eine Sendung nach Verlassen der Fabrik nur 3 Schritte: (1) Konsolidierung der Sendungen für länderspezifische Destinationen beim Carrier, (2) Versand von Asien nach Europa durch den Carrier, (3) Übernahme in Europa durch regionale Paket- und Zustelldienste und Zustellung der Sendung an Endkunden. Die Routen werden bereits vorab kostenoptimiert nach Empfängerstandort des Kunden berechnet. Eine Manipulation von Sendungen oder Pakete muss nach dem Verlassen der Fabrik nicht mehr durchgeführt werden (einzige Ausnahme kann ein Re-Labeling von Versandetiketten vor Übergabe an den finalen Zustelldienst sein).
Innerhalb der Lieferkette entfallen damit einerseits die Kapitalbindung für Produkte bei einer Zwischenlagerung und andererseits sämtliche Kosten und Investitionen für den Betrieb von Zentralverteillägern. Letzteres inkludiert ebenfalls Frachtkosten, wie z.B. Inbound-Frachten zur Bestückung von Lägern, Umlagerungen zwischen Standorten etc..
Die zeitlichen Nachteile des Versands aus Asien (per Luftfracht) im Vergleich zur Zustellung aus einem osteuropäischen Zentralverteillager (per LKW, jedoch Lenk- und Ruhezeiten berücksichtigt) können sich im Idealfall auf nicht mehr als 1-2 Arbeitstage belaufen.
Preis schlägt Zeit
Der Wettkampf von Zustelldiensten, Händlern und Plattformen um die schnellste Lieferung wird aktuell von Temu und Shein ausgehebelt. Dies zumindest in den von ihnen im Kern angebotenen Kategorien, die tendenziell weniger auf Bedarfsdeckung sondern auf „Shopping“ ausgerichtet sind.
Handelt es sich nicht um zeitkritische Produkte (Fashion-Outfit versus Druckerpatrone) ist der Endverbraucher bei absoluten Tiefstpreisen durchaus bereit, längere Wartezeiten für den Erhalt der Ware in Kauf zu nehmen. Und Logistik lässt sich anders organisieren, wenn mehr Zeit für eine Lieferung zur Verfügung steht: nicht unbedingt sind dann dezentrale Strukturen mit eng beim Kunden liegenden Zentralverteillägern erforderlich.
Die von beiden Plattformen gesetzten Preispunkte für Waren werden in erster Linie über die bereits oben dargestellten Kostenvorteile ermöglicht.
KI-unterstützte Produktentwicklung und -einführung
Die Entwicklung von Produkten erfolgt bei Shein über permanent erhobene Daten zu aktuellen weltweiten Trends: sei es über Social-Media-Kanäle, Chats oder Wettbewerbs-Plattformen. Allen voran in Fashion-Kategorien werden daraus – über speziell trainierte KI- Modelle – Produktideen generiert, die oftmals taggleich bereits dem Endkunden angeboten werden.
Ermöglicht wird dies durch den Einsatz künstlich generierter Produktbilder und Beschreibungen, die immer weniger von Media-Assets zu unterscheiden sind, welche mit physischen Mustern/Produkten in aufwändigen Foto- oder Video Shootings erstellt werden. Dies ermöglicht eine täglich mindestens 4-stellige Anzahl ‚neuer‘ Produkte auf der Plattform.
Über die Interaktion der Endverbraucher im Shopping-Frontend (z.B. Clickraten, Verweildauern) werden modellgestützte Bedarfsvorhersagen getätigt und erste Losgrößen an Produzenten vergeben. Bis zu diesem Punkt existierte möglicherweise noch kein einziges physisches Exemplar des Produkts.
On-Demand Produktion
Vorhersagen über den zukünftigen Bedarf fließen bei Shein in Echtzeit an die ausgewählten Lieferanten. Sollte vom Prognose-Modell ein zukünftiger Bedarf gesehen werden, wird bereits eine sehr kleine Losgröße produziert, vergleichbar einer ‚bereits versandfähigen‘ Null-Serie. Die weitere Produktion von Ware erfolgt in Losgrößen nach tatsächlichem Bedarf.
Allenfalls wird bei den Produzenten ein Mengen-Puffer von 100-200 Einheiten vorgehalten.
Damit wird einerseits die Kapitalbindung für Fertigwaren gegen Null gefahren und andererseits das Bestandsrisiko minimiert. Ein aufwändiges Restantenmanagement in den Zielmärkten (und den Produktionsstandorten) entfällt daher. Den traditionellen Handel (stationär wie Online) belastende Kosten für Abschriften, Warenrückführung oder Umlagerungen in einem Filialnetz sowie weitere logistische Manipulation bis hin zur (äußerst kritisch zu beurteilenden) Vernichtung von Ware, werden von den Plattformen fast vollständig eliminiert.
Ausblick
Für viele traditionellen Anbieter bleiben die Ansätze von Temu und Shein sicherlich nicht ohne Konsequenzen. Gesamte Eco-Systeme werden umgestaltet und Wertschöpfungsketten neu gedacht. Handel und Konsumgüterindustrie müssen sich jetzt mit diesem neuen Wettbewerbsumfeld auseinandersetzen. Und dies gilt gleichermaßen für die Unternehmen von A-Z: von Amazon über Otto bis Zalando wie auch für stationäre Formate und Verticals im Fashionbereich bis hin zu den einschlägigen Nonfood- und Textildiscountern.
Erste Anbieter beginnen gerade damit, ihre Lieferketten zu überarbeiten und beabsichtigen – so wie aktuell About You – Lieferungen direkt von (südeuropäischen) Produzenten an Endverbraucher versenden zu lassen. Amazon reduziert für erste Kategorien die Provisionssätze für Seller und plant zudem eine eigene ‚Direct from Factory‘ Kategorie, die dann wohl außerhalb der Prime-Logik angesiedelt sein müsste.
Und wenn Amazon schon einmal zum Getriebenen wird, so lassen sich bestimmt auch gleich einige Überlegungen zur Zukunft einer dezentralen Lagerpolitik und der Fulfillment-Dienstleistungen anstellen. Dies unbeschadet der Tatsache, dass Shein aktuell an einer eigenen Logistikstruktur für Europa arbeitet, die am Ende jedoch der weiteren Optimierung ihrer Supply Chain und dem Insourcing dient, aber auch als Reaktion auf den überhitzten Luftfrachtmarkt und dem möglichen Fall der EU-Zollfreigrenze zu sehen ist.